Ein kulinarisches Tagebuch: Auf den Spuren von Kavarma – Bulgariens herzhafte Schmortradition im Wandel der Jahreszeiten
Ein kulinarisches Tagebuch: Auf den Spuren von Kavarma – Bulgariens herzhafte Schmortradition im Wandel der Jahreszeiten
1. Oktober – Ankunft in Sofia, Erwartung und erste Notizen
Mit dem ersten kühlen Luftzug des bulgarischen Oktobers erreichte ich Sofia – Hauptstadt eines Landes, das sich zwischen Balkanmassiv und Schwarzem Meer spannt. Mein Auftrag: keine historische Analyse, keine politische Beobachtung, sondern eine Expedition in den Alltag eines Gerichts, das in vielen Regionen Bulgariens mehr als nur Nahrung bedeutet: Kavarma. In Restaurants auf Speisekarten gedruckt, in Dorfküchen seit Generationen zubereitet – es ist weniger ein Rezept, mehr ein Ritual.
Schon auf der Taxifahrt ins Zentrum erklärt mir der Fahrer, ein ehemaliger Bauingenieur, dass es "kein echtes Kavarma ohne Tonpfanne" gebe. Gjuwets, sagt er, sei der Name des Tongefäßes, in dem das Gericht traditionell geschmort werde. Tonerde, Zeit und Geduld – diese drei Dinge brauche es, um das Gericht zu vollenden. Ich notiere mir das mit leichtem Hunger und viel Vorfreude.
2. Oktober – Der Markt von Zhenski Pazar: Gemüse, Fleisch und Stimmen
Am nächsten Morgen führt mich der Weg zum Zhenski Pazar, Sofias berühmtem Frauenmarkt. Hier riecht es nach reifen Tomaten, Paprika, Lauch und frischer Petersilie. Ich beobachte eine ältere Dame mit Kopftuch, die vier Sorten Paprika prüft, bevor sie zwei davon mit prüfendem Blick in ihren Korb legt.
Eine Verkäuferin bietet mir verschiedene Schweinefleischstücke an – Nacken, Schulter, Bauch. "Für Kavarma?", fragt sie. Ich nicke. "Dann nimm das hier." Sie zeigt auf durchwachsenes Schulterfleisch. "Es schmilzt im Ofen." Ich kaufe ein gutes Kilo. Dazu: Zwiebeln, Knoblauch, Paprika, etwas Tomatenmark und frische Lorbeerblätter. Noch am selben Abend soll der erste Versuch starten.
2. Oktober, abends – Mein erstes Kavarma: der klassische Weg
In der kleinen Küche meiner Pension beginnt der Abend mit dem Schneiden der Zutaten. Die Zwiebeln glasig anschwitzen, das Fleisch rundherum anbraten, danach Paprika und Tomatenmark hinzugeben. Mit Weißwein ablöschen, Lorbeerblatt hinein, salzen, pfeffern. Das Ganze in den vorgeheizten Ofen – 160 Grad, zwei Stunden. Kein großer Aufwand, aber ein langsamer Prozess.
Als ich die Tonpfanne später aus dem Ofen ziehe, steigt mir ein Duft entgegen, der an kalte Nächte und warme Stuben erinnert. Das Fleisch ist zart, die Soße dick und tief im Geschmack. Es ist keine spektakuläre Küche – keine Aromenexplosion, keine avantgardistischen Texturen. Und doch ist es genau das, wonach der Körper verlangt: Ehrliche Substanz. Geborgenheit.
3. Oktober – Gespräch mit einer Wirtin in Plovdiv
Ein Tagesausflug nach Plovdiv bringt mich in ein familiengeführtes Lokal im Herzen der Altstadt. Die Wirtin, Maria, serviert mir Kavarma mit Kalbfleisch. Eine Überraschung – ich dachte, Schwein sei Standard. "Kalb ist leichter", erklärt sie, "für Gäste aus der Stadt. In den Dörfern kocht man rustikaler."
Maria fügt Champignons hinzu, eine Prise Paprikapulver, etwas Speck. Ihre Soße ist sämiger, fast wie ein Ragout. "Das Geheimnis", sagt sie, "liegt im Verhältnis zwischen Wein und Brühe. Der Wein muss führen, aber nicht betäuben."
Ich frage sie nach Varianten. "Oh, so viele", sagt sie. "Mit Hühnchen und Estragon, mit Lamm und Bohnen, vegetarisch mit Auberginen." Ich notiere: Kavarma ist keine Formel, sondern ein Prinzip.
4. Oktober – Bauernmarkt in Veliko Tarnovo: Lamm und Legenden
Der Markt in Veliko Tarnovo bietet neben Honig und Käse auch frisches Lamm. Ich spreche mit einem Schäfer, der mir erklärt, wie in den Hochlagen Kavarma oft mit Lammfleisch zubereitet wird – besonders zu Feiertagen. Dabei kommen neben den üblichen Zutaten auch Kreuzkümmel, Minze und manchmal Kichererbsen ins Spiel.
In einer Ecke entdecke ich getrocknete Paprika – dunkelrot, ledrig, intensiv im Aroma. Ich kaufe einige davon, inspiriert von Marias Version mit rauchiger Tiefe.
Am Abend koche ich erneut, diesmal mit Lamm. Die Paprika röste ich zuvor im Ofen, schneide sie in Streifen und füge sie gegen Ende der Schmorzeit hinzu. Ein Hauch Minze bringt Frische, der Kreuzkümmel erdet alles. Es ist Kavarma, aber mit alpinem Einschlag. Vielschichtig, doch nicht überladen.
5. Oktober – Das vegetarische Experiment
Zurück in Sofia wage ich das, was viele für einen Frevel halten würden: Kavarma ohne Fleisch. Stattdessen: geräucherte Aubergine, Zucchini, Champignons, getrocknete Tomaten, Butterbohnen. Der Ablauf bleibt gleich – anschwitzen, ablöschen, schmoren.
Das Ergebnis überrascht mich. Der Umami-Ton ist durch die Pilze präsent, die Textur stimmt. Ich serviere es mit frischem Brot und mildem Schafskäse. Zwar fehlt das Fett des Fleisches, aber die Fülle des Gemüses trägt das Gericht dennoch.
Später lese ich in einem alten Kochbuch, dass während der Fastenzeiten in Bulgarien viele Gerichte angepasst wurden. Kavarma war nie dogmatisch, sondern wandelbar – angepasst an den Kalender, die Vorratskammer, das Einkommen.
6. Oktober – Moderne Variationen und urbane Impulse
In einem hippen Restaurant nahe des Vitosha Boulevard treffe ich den jungen Koch Boris, der Kavarma neu interpretiert: mit Entenkeule, Granatapfelreduktion und Selleriecreme. Der Geschmack ist kraftvoll, das Spiel mit der Säure des Granatapfels klug gesetzt. Dennoch fragt man sich: Ist das noch Kavarma?
"Ich nenne es nur so wegen der Technik", erklärt Boris. "Das langsame Schmoren, die Komposition im Topf – das ist die Seele. Der Rest ist Auslegungssache." Ich nicke, denke an den Schäfer, an Maria, an den Markt. Kavarma lebt von seiner Form, nicht von festen Zutaten. Seine Identität liegt in der Methode.
7. Oktober – Fazit: Ein Gericht als Spiegel der Kultur
Sieben Tage, acht Versionen, zahllose Gespräche. Kavarma ist keine Speise für Eilige. Es ist kein Produkt des schnellen Kochens, sondern eine stille Metapher für Geduld und Erdung. Ob mit Schwein, Lamm oder Gemüse – das Gericht fordert, dass man sich Zeit nimmt. Zum Kochen, zum Essen, zum Zuhören.
Es trägt die Landschaft Bulgariens in sich – vom Rhodopengebirge bis ans Schwarze Meer. In seinem dampfenden Inneren verbinden sich bäuerliche Notwendigkeit und kulinarische Kreativität. Wer Kavarma kocht, der brät nicht nur Fleisch und Zwiebeln – er bewahrt eine Kulturtechnik.
Rezepte (klassisch & Varianten)
1. Klassisches Kavarma (mit Schweinefleisch)
Zutaten (für 4 Personen):
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800 g Schweineschulter, in Würfel geschnitten
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3 Zwiebeln, grob gehackt
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2 Paprika (rot und grün), in Streifen
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2 EL Tomatenmark
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200 ml Weißwein
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100 ml Brühe
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2 Lorbeerblätter
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3 Knoblauchzehen
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Salz, Pfeffer, Paprikapulver (edelsüß)
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Öl zum Anbraten
Zubereitung:
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Fleisch in Öl scharf anbraten. Aus dem Topf nehmen.
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Zwiebeln und Paprika anbraten, Tomatenmark kurz mitrösten.
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Fleisch zurückgeben, Knoblauch, Lorbeerblatt und Gewürze hinzufügen.
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Mit Wein und Brühe ablöschen.
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In eine Tonform geben und bei 160°C ca. 2 Stunden schmoren.
2. Kavarma mit Lamm und Minze
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Statt Schweinefleisch: 800 g Lammkeule
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Zusätzliche Gewürze: 1 TL Kreuzkümmel, frische Minze
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Optional: geröstete getrocknete Paprika
3. Vegetarisches Kavarma
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Statt Fleisch: 2 Auberginen, 2 Zucchini, 200 g Champignons, 100 g Butterbohnen
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Mit Gemüsebrühe statt Fleischbrühe
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Optional: geräuchertes Paprikapulver
4. Kavarma modern (à la Boris)
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2 Entenkeulen, confiert
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Selleriecreme als Basis
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Granatapfelreduktion als Kontrast
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Frische Kräuter zum Anrichten
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Meta-Beschreibung:
Kavarma ist ein traditionelles bulgarisches Schmorgericht, das in vielfältigen Variationen existiert – von klassisch mit Schwein bis vegetarisch oder modern interpretiert. Entdecken Sie Rezepte, regionale Besonderheiten und persönliche Reiseimpressionen in diesem kulinarischen Tagebuch.
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